Der Noon Song – das klingende Geschenk für Geist und Seele. Wer die heilsame Kraft der Töne und Melodien sucht, richtet seine Schritte am Samstagmittag in die Kirche Am Hohenzollernplatz. Angefangen von den Psalmen über jahrhundertealte Choräle und Motetten bis hin zu zeitgenössischen Kompositionen dringt die stärkende Kraft der geistlichen Musik an Herz und Verstand, immer auf ‘s neue ein Vergnügen, Trost und Freude für den ganzen Menschen.
Christhard-Georg Neubert – Kunstbeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin Brandenburg – Schlesische Oberlausitz
Dozent für Chorliteraturkunde
Als Dozent für Chorliteraturkunde an der UdK Berlin stand ich häufig im Lesesaal der Musikbibliotheken vor den Denkmal- und Gesamtausgaben. In der opulenten, teuer gebundenen Reihe »Das Erbe deutscher Musik« mit 125 Bänden, und anderen großformatigen Reihen stieß ich auf groß angelegte, prachtvolle Kirchenmusik aus Mittelalter, Renaissance und Barockzeit, von der ich zuvor nie etwas gehört hatte.
Von vielen Werken gab es keinerlei Einspielungen auf Tonträger, obwohl sie in den wissenschaftlichen Ausgaben in perfekt lesbare neuzeitliche Musiknotation übertragen vorlagen. Eine noch größere Fundgrube sind die alten Gesamtausgaben, die ab dem 19. Jahrhundert erstellt wurden.
Erstaunlich viele Vertonungen protestantischer Komponisten von Psalmen und Magnificats, oft mehrchörig und mit vielen Instrumenten, waren darunter, und ich begann mich zu fragen, in welchem gesellschaftlichen und liturgischen Kontext diese Werke wohl erklungen sind.
Trinity College Cambridge
Ein paar Antworten auf meine Fragen erhielt ich bei einem Besuch des Trinity College Cambridge, wo ich zu Gast beim dortigen Chorleitungsprofessor Richard Marlow war. Dort erlebte ich die täglichen, vom College Chor gestalteten Evensongs. Der Chor sang jeden Tag auf höchstem Niveau Psalmvertonungen in vielfältigster Weise, von der Gregorianik über einfache »anglican chants« bis hin zu hochvirtuosen Motetten, und jeden Tag eine Magnificat-Komposition.
Im Evensong hat sich nämlich die Tradition des chorisch gestalteten Stundengebetes erhalten, die in der evangelischen und katholischen Kirche auch in Zentraleuropa noch bis ins 19. Jahrhundert regelmäßig gefeiert wurde
Täglicher Evensong
Gleichzeitig begeisterte mich, wie der tägliche Evensong die Menschen prägt: der Chor muss unglaublich schnell und aufmerksam sein, um jeden Tag neue Werke aufführungsreif singen zu können, die Besucher werden durch den herrlichen Gesang motiviert, ihren Gemeindegesang ebenso schön erklingen zu lassen, und alle leben ganz selbstverständlich in ihrer musikalischen Tradition, die sie jeden Tag erkunden und lebendig werden lassen.
Ganz abgesehen davon, zieht der Evensong täglich viele Touristen an, so dass die traditionsreichen College-Kirchen in Cambridge stets gut besucht sind. Ich verließ Cambridge mit dem Wunsch, das chorisch gesungene Stundengebet auch bei uns wieder regelmäßig aufleben zu lassen – und in der Überzeugung, dass diese Form auch in einer so säkularen Stadt wie Berlin gut für die Ruhe und Besinnung suchenden Menschen ist.
Der NoonSong – Fortsetzung einer jahrtausendealten Tradition
Die Evensong-Liturgie knüpft an die Form der Tagzeiten-Gebete an, wie sie vor allem an den Lateinschulen und Klöstern im protestantischen Mitteldeutschland im 16. Jahrhundert gefeiert wurde – eine Tradition, die gerade erst wieder erforscht und erschlossen wird
Tagzeitenliturgie
Die Tagzeitenliturgie mit ihrer strengen Kirchenjahresbindung wird in vergleichbarer Weise in allen christlichen Kirchen gefeiert und ist somit eine ideale Form des ökumenischen Gottesdienstes. Aus musikalischer Sicht bietet sie den originären Rahmen für die Fülle an figuraler Chormusik auch protestantischer Komponisten, z.B. zu den Cantica, die in der lutherischen Messe keinen Platz haben, und ermöglicht so die Wieder – belebung dieses Schatzes.
Für die Besucher ist der NoonSong ein »niederschwelliges Angebot«, weil sie vor allem hörend an der Liturgie beteiligt sind. Diese Rolle des Zuhörers hat bereits Samuel Sebastian Wesley im Zuge der »Musical Renaissance« in der anglikanischen Kirche im 19. Jahrhundert so beschrieben: »In his view, those who actually performed the service could never be so thoroughly imbued with its spirits as those who preserved a silent attention. The beauty of choral service of the Church […] must necessarily render the auditor speechless, and produce a feeling far different from that which results in utterance.« (1)
Liturgisches Modell
In vorbereitenden Gesprächen u.a. mit dem katholischen Priester Prof. Dr. Andreas Odenthal, (Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, heute Bonn) und Altbischof Prof. Dr. Wolfgang Huber entwickelte ich die Rekonstruktion und Adaption des liturgischen Modells. Die formale Klammer stellen die »Preces & Responses« des Evensongs in deutscher Übersetzung dar. Sie umschließen zwei Psalmen, die Lesung und das Canticum und enden mit dem jeweiligen Wochenlied. Als Grundlage für die Psalmauswahl dient die Leseordnung des »Evangelischen Tagzeitenbuches« mit den jeweiligen Tages- und Wochenpsalmen zum folgenden Sonntag.
Geläut der Glocken
Wie zu einem Sonntagsgottesdienst lädt das Geläut der Glocken ein. Die acht Sänger in roten Chorgewändern, der Dirigent und der Liturg haben im hinteren Teil der Kirche Aufstellung genommen. Unter den Klängen der Orgel ziehen die Mitwirkenden ein und nehmen zwischen Gemeinde und Altarstufen Aufstellung. Damit wird verdeutlicht, dass der Chor stellvertretend für die Gemeinde agiert. Er singt die »Preces« im Wechsel zwischen Kantor, Liturg und Chor nach anglikanischem Ritus, welche sich aus dem Invitatorium und Versikel des Stundengebetes zusammensetzen.
Aus dem Altarraum erklingen als nächstes zwei Psalmkompositionen, meist in groß angelegten Chorwerken, zu Tages- und Wochenpsalm. Als einziges gesprochenes Wort trägt der Liturg danach die Lesung mit wenigen einleitenden Worten vor, ge – folgt vom Responsorium des Chores in Form von deutscher Gregorianik. Als Canticum erklingt entweder eine Magnificat- oder BenedictusKomposition oder aber die Vertonung eines anderen, kirchenjahreszeitlich adäquaten hymnischen Textes aus dem Neuen Testament.
Daran schließen sich die »Responses« an. Sie bestehen aus dem Kyrie, dem Vater unser, in welches die Gemeinde mit einstimmt, den großen Fürbitten im Wechsel zwischen Liturg und Chor sowie den drei Kollektengebeten, die der Liturg nach anglikanischer Tradition auf einem Rezitationston singt. Mit dem jeweiligen Wochenlied, gesungen im Wechsel von mehrstimmigem Satz des Chores und Gemeinde und dem Segen des Liturgen schließt die kurze Liturgie und der Chor zieht unter den Klängen eines Orgelstückes wieder aus.
Die Tradition gewordene Tradition
Heute, nach fast 500 NoonSongs, ist der NoonSong selbst zu einer Tradition geworden, welche den Rhythmus des Wochenendes vieler Menschen bestimmt. Rückschauend erkenne ich, dass der NoonSong inzwischen einiges bewegt hat. Ich kenne keine Gemeinde, die so gut singt wie die NoonSong-Gemeinde, schwungvoll und intonationssicher, gern auch mehrstimmig. Der NoonSong verzeichnet auch nach zehn Jahren ein Besucherwachstum, ganz im Gegensatz zur aktuellen Entwicklung der Gottesdienstbesucher in katholischen oder evangelischen Gemeinden. Da der NoonSong auch nach über zehn Jahren ohne regelmäßige institutionelle Förderung durch Land oder die Kirchen auskommen muss, hat sich eine einmalige Form der aktiven Unterstützung entwickelt: der NoonSong existiert nur so lange, wie Menschen sich für ihn einsetzen. Solcherart abhängig von der Zustimmung unserer Besucher haben wir uns offen jeder Diskussion und Anregung gestellt, sind dabei aber der tradierten Form treu geblieben. Dies ist vielleicht die erstaunlichste Erkenntnis: Dass jahrtausendealte Psalmtexte im Rahmen einer traditionsreichen Liturgie in größtmöglicher Schönheit gesungen, die Kraft des Wortes Gottes auch heute noch offenbaren. (2)
1 Rainbow, Bernarr: The Choral Revival in the Anglican Church 1838–1872, London 1970, Neuaufl. Woodbrigde 2001
2 In den über 10 Jahren erklangen über 400 verschiedene Psalmkompositionen, über 50 verschiedene Magnificats und über 20 verschiedene LiturgieVertonungen. s.a. Müller, Claudio: 30 Minuten Himmel – der Berliner NoonSong, in: Musica sacra 2018, S. 350–352